Mark-Andreas Schlingensiepen
Live-Musik zu Stummfilmen
Ich begann bereits nach meinem Studium und einer Assistenz bei David Shallon mit der Jungen Deutschen Philharmonie mit zwei Tätigkeitsschwerpunkten, denen ich bis heute treu geblieben bin. Durch die Mitbegründung eines Ensembles für Neue Musik in der Spielzeit 1983/84, das bis heute unter dem Namen notabu.ensemble neue musik eine stete Weiterentwicklung nehmen konnte, ist der eine Bereich benannt. Der zweite ist das Thema Live-Musik zu Stummfilmen. Im Grunde ist auch dies eines der Musik des 20.Jahrhunderts, wurde doch der Film an der Schwelle zum 20.Jahrhundert erfunden. Allerdings ist die Musik dieses Genres stilistisch so vielfältig, dass die Subsumierung unter dem Begriff „Neue Musik” hier irreführend wäre, selbst wenn man mit Recht einwenden kann, dass der Begriff „Neue Musik” selbst schon nichts Klares aussagt. Dennoch, das Stichwort „Charles Chaplin” macht vielleicht schnell deutlich, was ich meine.
Man spricht im Falle der Musik zum Stummfilm von
Originalmusiken
(Erklärung ein/ausblenden),
»Als Originalmusik bezeichnet man eine Partitur, die zu einem Film - und nur zu diesem geschrieben wurde, egal, in welcher Fassung sie heute präsentiert wird werden kann. Prominentestes Beispiel „aus meiner Werkstatt” ist Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin”. Erhalten ist der Klavierauszug der Originalmusik von Edmund Meisel aus dem Jahre 1926, den ich im Jahre 1986 zur Grundlage meiner Neufassung für die Junge Deutsche Philharmonie gemacht habe. Gottfried Hupperts´ Musik zu Fritz Langs „Metropolis” ist eines der wenigen Beispiele einer Originalmusik aus Originalzeiten, die auch noch weitestgehend im originalen Klanggewand existiert.«
Kompilaten (neuen und alten)
»Ein Kompilat ist eine (mit unter sehr bunte) Zusammenstellung aus zu den einzelnen Filmszenen passenden Versatzstücken zu einer Partitur. Solch ein Kompilat kann aus der Entstehungszeit des Stummfilms stammen, es kann aber auch im Stil der Zeit neu verfasst sein. Die „Einheit“ der Versatzstücke kann in gewissem Maße durch die Instrumentation erreicht werden. Standard der Praxis in den 20ger Jahren wird diese Art der Einheit aber wohl nicht gewesen sein. Ein Beispiel aus meinem Repertoire ist Ernst Lubitschs Tragikkomödie „Madame Dubarry“, zu der ich eine aus Originalzeiten erhaltene Stückliste für ein 13köpfiges Ensemble bearbeitet habe. Keines der originalen Werke unterschiedlichster Provenienz und Berühmtheit erscheint auf diese Weise dort in seinem ursprünglichen Klanggewand.«
und neuen Kompositionen (die auch Originalmusiken sind).
»Es gibt auch Filme, zu denen ein musikalisches Modell der Entstehungszeit nicht mehr bekannt ist. Mitunter erschien anderes auch sinnvoller. In solchen Fällen sind zeitübergreifende musikalische Blicke von heute durch Neukompositionen auf die Filmwerke von damals reizvoll. Um mit den Beispielen bei meinem Repertoire zu bleiben: ich habe zwei Partituren für zwei sehr verschieden besetzte Ensembles zu Man Rays Filmen „L´etoile de mer“ und „EMAK BAKIA“ geschrieben, nicht ohne einen kleinen Seitenblick auf die ursprüngliche Begleitform in meine Musik einzuflechten: zur Uraufführung soll neben vielem anderen Josephine Bakers Musik von der Schallplatte zur Filmvorführung eingespielt worden sein. Die Dame kommt in meiner Komposition deshalb auch zu Ehren. Neue Werke sind natürlich auch wiederum Originalkompositionen.«
(Die improvisierte Musik des berühmt-berüchtigten Pianisten, die Ihnen vielleicht zuerst in den Sinn gekommen ist, lassen wir hier außer Acht.)
Zu allen drei Varianten finden Sie Beispiele im folgenden
Stummfilm-Repertoire
(chronologisch nach Entstehungsjahr der Filme)
Der Student von Prag (1913)
Regie: Stellan Rye, Musik: M.-A. Schlingensiepen nach der Klaviermusik von Joseph Weiss (Originalmusik in einer neuen Fassung für kleines Orchester)
Der Student Balduin verkauft einem undurchsichtigen Mann namens Scarpinelli der Vorbildsein für den viel berühmter gewordenen Dr.Caligari geworden ist sein Spiegelbild für eine ordentliche Summe, mit der er im Gesellschaftsleben zu reüssieren gedenkt. Er hat auch Erfolg damit, aber sein spiegelbildlicher Doppelgänger heftet sich an seine Fersen und durchkreuzt seine Pläne zunehmend. In heftigen Verwicklungen wird er zu einem Duell gefordert, verspricht aber unter der Hand, den Herausforderer als einzigen Spross einer alten Familie zu schonen. Mit akademischer Verspätung kommt er zum Duell und muss feststellen, dass sein „zweites Ich“ an seiner Stelle den Kontrahenten schon getötet hat. Als vermeintlich Wortbrüchiger gemieden, gerät er ins Abseits und leidet immer stärker unter seinem Ebenbild. Schließlich schießt er auf den hartnäckigen Verfolger seines Glücks - und tötet sich damit selbst!
Die Musik war für Orchester geplant. Die Zeit reichte dem Komponisten Joseph Weiss, einem Schüler Liszts, aber nicht, sodass er eine Klavierfassung bei der Premiere vortrug, bei der es dann geblieben ist. Es handelt sich bis auf ein Chopin-Einsprengsel um eine Originalkomposition, die es allerdings nicht zur Orchesterfassung brachte. Schlingensiepen schuf eine solche auf der Grundlage der Klavierfassung, nachdem die Rekonstruktion des Films (wiederum auf der Grundlage der Klaviermusik) abgeschlossen war.
Madame Dubarry
(1919)
Regie: Ernst Lubitsch, Musik: M.-A. Schlingensiepen nach einer Stückliste aus Originalzeiten (Kompilat in einer neuen Fassung für Kammerensemble)
Die junge Jeanne ist Lehrling bei einer Hutmacherin. Sie hat schon einige Amouren durchlebt, und eigentlich ist sie ja mit dem Studenten Armand liiert, als sie unter verwirrend komischen Umständen Maitresse des französischen Königs Ludwig XV. wird. Natürlich ist für den eine andere vorgesehen, die deshalb mit ihrem Bruder, dem Finanzminister, kräftig gegen Jeanne intrigiert. Damit Jeanne „ehrbar” wird, wird sie in Scheinehe mit dem verlotterten Bruder des Grafen Dubarry verheiratet. Sie vergisst aber ihren Armand nicht ganz. Der wird durch ihren Einfluss nach vielen Verwicklungen Mitglied der Leibgarde des Königs, die er entrüstet verlässt, als Soldaten auf das Volk schießen. Er wird so zum fanatischen Revolutionär, während sie zum Mitglied des Hofstaats geworden ist. Der König erkrankt und stirbt. Das Volk erstürmt die Bastille. Die Dubarry wird vor das Revolutiontribunal gebracht und zum Tode verurteilt. Armand versucht, sie in wiedererwachter Zuneigung vergeblich zu retten und wird selbst als Verräter getötet, bevor Madame Dubarry öffentlich hingerichtet wird.
Die Musik ist als eine Stückliste (Kompilat) aus Originalzeiten in der Zeitschrift „Der Filmkurier” veröffentlicht worden. Aus dieser Liste, die Stücke der unterschiedlichsten Stile zu den Bildern vereint, entstand eine Partitur, in der all diese heterogen Bestandteile in einheitlicher Instrumentierung ein neues klangliches Gesicht erhielten. Durch die Instrumentierung für ein kleineres Ensemble (u.a. mit Akkordeon) hat Schlingensiepen der Musik einen ironisierenden Charakterzug gegeben, der mit der Filmsprache Lubitschs korrespondiert.
Das Cabinet des Dr. Caligari (1920)
Regie: Robert Wiene, mit Konrad Veit, Lil Dagover, Musik: Guiseppe Becce
(neues Kompilat von L.Prox/E.Gerhardt in einer Fassung für Salonorchester nach altem Vorbild)
Wenn ein Plot schwer zu beschreiben ist, dann dieser! Zwei Männer sitzen auf einer Bank in einem Park. Der eine erzählt dem anderen eine eigenartige Geschichte, von der im Weiteren berichtet wird: auf einem Jahrmarkt in einer Kleinstadt tritt ein Dr. Caligari auf, der einen Somnambulen zur Schau stellt. Dieser sagt den Besuchern ihre Zukunft vorher. Zwei junge Männer Alan und Francis sehen sich das Spektakel an. Alan fragt den Somnambulen (Cesare), wie lange er noch leben werde und erhält die Antwort: Bis zum Morgengrauen! Tatsächlich ist er am nächsten Morgen tot. Zwei städtische Beamte waren schon an den Vortagen unter mysteriösen Umständen umgekommen. Die allgemeine Unsicherheit im Städtchen ist groß. Francis verdächtigt Dr.Caligari und stellt Nachforschungen an. Die Polizei erwischt einen Räuber auf frischer Tat und glaubt den Mörder damit gefangen zu haben. Aber der Irrtum wird offenkundig, als auch Jane, die Angebetete (ursprünglich von Alan und) von Francis fast das Opfer des gesuchten Mörders wird: Cesare war dabei hypnotisiert durch Caligari auch Jane umzubringen, verliebt sich aber in die schlafende Frau, die er folglich nicht töten, sondern mitschleppen will. Dabei wird es laut und er gerät unter die Verfolgung durch das Hauspersonal, lässt schließlich Jane auf der Flucht fallen und bricht selbst zusammen, als die Hypnosekraft Caligaris nachlässt. Der flüchtet in eine Irrenanstalt (deren Foyer die einzige „normale” Architektur der Filmkulissen zeigt). Francis ist ihm gefolgt und stellt nun dort Nachforschungen an, die zu Tage bringen, dass der Chef der Irrenanstalt als Dr.Caligari der böse Geist hinter Cesare zu sein scheint. Nachdem sich dem Betrachter zu guter Letzt aber entschlüsselt, dass die beiden Männer, die am Anfang auf der Parkbank zu sehen waren, sich diese Geschichte eben gerade in dieser Irrenanstalt erzählen und einer von beiden auch noch Francis selbst ist, ist der Realitätsgehalt der Darstellung natürlich vollständig in Frage gestellt, obwohl…
Die Musik vollzieht ein Kompilat aus Originalzeiten nach. Die Bearbeiter haben dabei allerdings eine für die Zeit untypische stilistische Reinheit gewahrt, indem sie ausschließlich Stücke von Guiseppe Becce verwand haben, die durch „work in progress” auch noch dicht miteinander verbunden worden sind. Entstanden ist eine Partitur, deren Wirkung eher der einer Originalkomposition entspricht.
The Kid (1921)
Regie: Charlie Chaplin, Musik: Charlie Chaplin (Originalmusik für Orchester)
Aus Charlie und dem ihm unter widrigen Umständen „zugefallenen” Findelkind wird ein unzertrennliches Team, in dem der kleine Partner z.B. die Fensterscheiben einschmeißt, die der große dann reparieren kann. Als das Kind krank wird, erfährt der Arzt die familiären Zusammenhänge und schaltet sofort „das Jugendamt” ein. Charlie verhindert mit mutigstem Einsatz, dass der Junge ins Heim gebracht wird. Als er mit ihm in einem Nachtasyl schläft, liest der Betreiber, dass ein Kind gesucht wird, das mit einem kleinen Mann unterwegs sei. Erpicht auf die Belohnung, schnappt er sich den Jungen und bringt ihn zur Polizei. Dort erwartet ihn die Mutter, die ihn einst in ihrer Verzweiflung ausgesetzt hatte. (Sie hat inzwischen eine Karriere als Künstlerin gemacht). Charlie kehrt tief traurig allein nach hause zurück. Auf der Schwelle seiner Haustür sitzend schläft er erschöpft ein und hat einen Traum. All seine Bekannten aus der kleinen Nachbarschaft sind darin Engel. Eine Engelsdame (im echten Leben bald Chaplins nächste Ehefrau) sucht ihn zu verführen. Selbst in diesem Paradies bringt das nur Ärger. Charlie wird niedergeschossen. Aus diesem Traum weckt ihn ein Polizist. Der ist im Auftrag der Kindsmutter auf der Suche nach ihm, denn natürlich will der Junge Charlie wieder sehen!
Von jeder Musik zu Chaplins Filmen heißt es, er habe sie geschrieben und dass ohne Notenkenntnisse! Ohne die Hilfe ausgesprochen befähigter Musiker in seiner Umgebung wäre es sicher nicht möglich gewesen. Wie in den anderen Chaplins Vorsingend und (auf dem Cello) auch -spielend, im Verlauf der Produktion kräftig eingreifend, hat er aber tatsächlich den schöpferischen Prozess beherrscht wie jedes Detail seiner Werke.
Nosferatu (1922)
Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, Musik: Hans Erdmann (Originalmusik ergänzt von B. Heller),
Michael Obst (Neukomposition für Ensemble), José Maria Sanchez-Verdu (Neukomposition für Orchester und Stimmen)
Der junge Thomas Hutter arbeitet für den suspekten Makler Knock, der einem undurchsichtigen Kunden namens Graf Orlok ein Haus verkaufen will. Hutter wird zu diesem Kunden geschickt. Ort und Umstände enthüllen: Orlok ist Nosferatu, ein Vampir. Kaum hat der ein Bild der Verlobten Hutters gesehen, will er das angebotene Haus in der Nachbarschaft der jungen Dame tatsächlich kaufen. Nosferatu macht sich mit einem Geisterschiff auf den Weg. Hutter beeilt sich, nichts Gutes ahnend, nach Wisborg zurückzukommen. Nosferatu ist bereits angekommen. Im Schlepptau hat er die Pest in den Ort gebracht. Knock, der Makler, entpuppt sich als der Handlanger Nosferatus, dessen todbringende Gegenwart nur durch eine junge „unschuldige” Frauenseele beendet werden kann. Selbstverständlich ist dies Hutters Verlobte. In deren Hals verbissen überhört Nosferatu schließlich das Krähen des Hahns, was bekanntlich das Ende eines jeden Vampirs bedeutet.
Die Musik von Hans Erdmann zeigt ein typisches Modell einer Originalkomposition aus den Entstehungszeiten. Der Weimarer Kompositionsprofessor Michael Obst wählt eine Tonsprache, die mit zeitgenössischen Mitteln dem „Klassiker des Horrorfilms” gerecht wird. Sanchez-Verdu schlägt einen ihm sehr eigenen verhaltenen Ton an. U.a. durch die Beteiligung von Frauenstimmen im Orchesterklang wird die surreale Ebene der Filmhandlung stimmig unterstützt.
Der letzte Mann (1924)
Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, mit Emil Jannings, Musik: Karl Ernst Sasse (Neukomposition für Kammerorchester)
Ein älterer Mann arbeitet als Empfangschef vor der Tür eines vornehmen Hotels in Berlin. Er hat mit dem körperlich anstrengenden Job bei Wind und Wetter schon etwas Mühe, verkörpert ihn aber mit Leib und Seele. Da bestellt ihn der junge Hotelmanager zu sich, um ihm ohne besondere Aufmerksamkeit zu investieren mitzuteilen, dass er der Aufgabe enthoben werde. In großzügiger Geste entlässt er den Alten aber nicht. Der darf in Zukunft auf dem Herrenklo arbeiten. Hohes Ansehen hatte er bisher wohl vor allem durch die prachtvolle Uniform genossen, in der er allabendlich auf dem häuslichen Hinterhof Einzug gehalten hatte. Die muss er nun abgeben. In seiner Verzweiflung über diesen (tatsächlichen oder befürchteten) Ansehensverlust stiehlt er die Uniform aus dem Hotel, als er zur Hochzeit seiner Nichte geladen ist und kann so noch einmal alle Blicke auf sich ziehen. Ihn plagen aber Alpträume in Anbetracht der Zukunft. Als eine Dame, die ihn in Uniform verehrte, schließlich entdeckt, dass er inzwischen auf dem Herrenklo arbeiten muss, scheint seine Existenz ruiniert. … wäre da nicht der Millionär gekommen, dessen Vermögen er erbt, weil er sich diesem in liebevoller Weise zugewandt hat, als der es dringend brauchte! So kann „der letzte Mann“ zum Schluss mit einem guten Kumpel sein Leben genau in dem Hotel genießen, in dem er zuvor auf der sozialen Leiter ganz nach unten geschickt worden war!
Die Musik geht mit unterhaltsamem Schwung zu Werke. Karl-Ernst Sasse versteht als erfahrener Defa-Komponist sein Handwerk exzellent.
Westfalenblatt Bielefeld vom 23.10.1995:
„… Von einem sozusagen leitmotivischen Trompetensignal (das in der Filmmitte auch mit der „fliegenden Kamera” von Karl Freund visualisiert wird) und dem Abbau der marschähnlich ausgedrückten Selbstgefälligkeit des auf seine Uniform so stolzen Portiers reicht die Skala bis zum witzig umgesetzten höhnischen Tratsch von Fenster zu Fenster im Hinterhof und ebenso amüsanten alkoholgetränkten Tönen zu den köstlichen optischen Bildüberlagerungen im Vollrausch der Hochzeitsgäste. Hinzu kommen Anklänge der Musik der Zwanziger Jahre (Ragtime, Foxtrott der ein paar Takte Gershwin) und im Hinterhof volkstümlich Polka, Walzer oder auch „Trink, Brüderlein …”.”
The Thief of Bagdad (Der Dieb von Bagdad) (1924)
Regie: Raoul Walsh, von und mit Douglas Fairbanks, Musik: Carl Davis unter Verwendung der Scheherazade von Rimski-Korsakow
(Neues Kompilat für großes Orchester)
Ganz auf den Produzenten und Hauptdarsteller Douglas Fairbanks jun. (der übrigens Chaplins engster Freund war) zugeschnitten, erzählt der Film ein pittoreskes orientalisches Märchen um einen sympathischen Taugenichts in hinreißenden Bildern.
Die Musik basiert passender Weise auf Rimski-Korsakows Sheherazade und anderen Stücken desselben Komponisten in einer Zusammenstellung von Carl Davis.
Ballet mécanique (1924)
Regie: Fernand Léger, Musik: George Antheil (Originalmusik für vier Klaviere und Schlagzeug)
(in Kombination mit EMAK BAKIA, L´Etoile de Mer und Entre Act)
Entre Act
Emak Bakia
L´Etoile de Mer
Ballet mecanique
Die vier Avantgarde-Filme haben keine erzählbaren Inhalte. Es handelt sich um abstrakte oder surrealistische optische Experimente, die u.a. mit den Mitteln der Montage und des Tricks eine besondere Atmosphäre schaffen und eine eigene, filmspezifische Sprache entwickeln.
Die Musik zu den Filmen Man Rays versucht mit Mitteln unserer Zeit, den bis heute erstaunlich experimentellen Charakter der Filme zu unterstreichen. Filmische Details geben dabei Impulse für die formalen und inhaltlichen Aspekte der Partitur. Die Filmmusiken von Satie und Antheil sind Klassiker der Moderne. Antheils Partitur war ursprünglich mit 16 Klavieren ausgestattet. In der heutigen Version sind es immerhin noch vier.
Panzerkreuzer Potemkin (1925)
Regie: Sergei Eisenstein, Musik: M.-A. Schlingensiepen auf der Basis des Klavierauszugs der Originalmusik von Edmund Meisel ergänzt und instrumentiert für Orchester (Originalmusik 1926/1986)
Einer der berühmtesten Filme der Filmgeschichte ist der „Panzerkreuzer Potemkin”. Auch wenn er letztlich die Propaganda-Bedürfnisse der jungen Sowjetunion bedient, ist doch nie wirklich sein Rang als Kunstwerk bezweifelt worden. Eisenstein erzählt in einer damals völlig neuen Sprache der Bilder (Montagetechnik) die Geschichte des Aufstandes der Matrosen an Bord des damals modernsten Kriegsschiffes der russischen Marine. Es kommt zu diesem Aufstand nicht, weil die Matrosen etwa von hohen Zielen oder politischen Ideen getrieben wären. Auch die militärische Härte ist es nicht, die zum Aufstand führt. Aber als der Schiffsarzt offenkundig verdorbenes Fleisch zur Verarbeitung in der Kombüse frei gibt, verweigert die Mannschaft das Essen. Als schließlich ein Kommando an Deck die Matrosen erschießen soll, die sich weigern, die Suppe aus faulem Fleisch zu verzehren, kommt es zum Handgemenge zwischen der Mannschaft und den Offizieren. Diese werden bezwungen und über Bord geworfen. Aber auch der eigene Anführer ist dabei getötet worden. Während der Panzerkreuzer außerhalb des Hafens von Odessa liegt, werden die Aufständischen von den Bürgern der Stadt über eine Armada von kleinen Booten mit Lebensmitteln versorgt. Die Admiralität beschließt derweil, die Schaulustigen im Hafen rücklings zu beschießen. Dies ist in den berühmten und eindrucksvollen Szenen auf der Treppe von Odessa (mit einem mutterlosen Kinderwagen, der die Treppe hinab rollt) beschrieben. Die Mannschaft des Panzerkreuzers beschießt daraufhin den Sitz der Admiralität aus vollen Rohren. (Filmisch ist das in wenigen Augenblicken erledigt.) Im letzten Teil droht dann die Konfrontation des Panzerkreuzers mit den restlichen Schiffen der Marine. Die lassen ihn aber passieren. Hier ist in Wahrheit wohl nicht die Solidarität, wie es der Film erzählt, sondern die Furcht vor den modernen Waffen der Grund gewesen, der die Konfrontation im letzten Augenblick verhindert hat.
HNA Kassel 20.11.92:
„Im Opernhaus Kassel war eine von Mark-Andreas Schlingensiepen rekonstruierte Fassung diese Musik zu hören, teilweise neu strukturiert, ausgeweitet und (gänzlich neu) instrumentiert. Das Ergebnis war in jeder Hinsicht substanziell. … Changierend zwischen rabiatem und ekstatischem Tonfall und romantisierenden Einschüben, am Ende vom Publikum umjubelt.”
Goldrush/Goldrausch (1925)
Regie: Charlie Chaplin, Musik: Charlie Chaplin (Originalmusik für Orchester)
Charlie ist auf dem Weg in das Goldgräberland Alaska. Gleich ist zu sehen, dass er dort ein Greenhorn ist. Aber er hat das nötige Glück. Der Bär hinter ihm lässt ihn in Ruhe. Charlie bemerkt ihn nicht einmal. Auf seiner Wanderung im Eis trifft er auf Genossen, die ihn ausrauben oder sogar (vor Hunger) verspeisen wollen. Dazu kommt es aber natürlich nicht. Charlie und sein ungleicher Kumpel überleben stattdessen gemeinsam den Absturz ihrer Hütte, verzehren einen professionell tranchierten Schuh, wehren einen Bärenangriff ab und …
Von jeder Musik zu Chaplins Filmen heißt es, er habe sie geschrieben und dass ohne Notenkenntnisse! Ohne die Hilfe ausgesprochen befähigter Musiker in seiner Umgebung wäre es sicher nicht möglich gewesen. Vorsingend und (auf dem Cello) auch spielend, im Verlauf der Produktion kräftig eingreifend, hat er aber tatsächlich den schöpferischen Prozess beherrscht wie jedes Detail seiner Werke.
Westdeutsche Zeitung am 19.4.2005
„In Goldrausch ist für Chaplin nicht das Geld wichtig, sondern die Liebe. Seine Liebe ist so rein und schön, dass er es wie keine zweiter verstand, eine Komödie in ein wunderbares lyrisches Poem zu verwandeln. Um solche Inhalte in Form von laufenden Bildern und Tönen zu vermitteln, schonte er sich und andere nicht. Manche Mitarbeiter soll er sogar bis zur äußersten Erschöpfung getrieben haben, so etwa den Komponisten David Raksin und den Arrangeur Edward Powell. Sie brachten seine musikalischen Vorstellungen, weil er selbst keine Noten lesen konnte, zu Papier. Nach diesem Prinzip entstand zu „Goldrausch“ eine sehr gefühlvolle Musik mit vielen Leitthemen und manchen Opernzitaten, wie es damals üblich war.
Unter der sehr versierten Leitung von Mark-Andreas Schlingensiepen boten die städtischen Sinfoniker (Wuppertals) die Musik absolut synchron zum tragischen wie komischen Film. Ein differenziertes, harmonisches Klangbild und präzise Einsätze sorgten für eine großartige Orchesterleistung.”
Faust (1926)
Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, mit Emil Jannings, Gösta Ekman, Camilla Horn,
Musik: Mark-Andreas Schlingensiepen „Eine Liszt-Paraphrase zu Murnaus Stummfilm“
(Neukomposition mit Aspekten des Kompilats - für großes Orchester 1999)
Der unruhige Forschergeist Faust versucht, die Welt mit seiner Wissenschaft zu ergründen und zu erklären. Er stößt dabei allerdings an seine Grenzen, als die Pest über das Land kommt. Die verzweifelten Menschen erbitten von ihm, dem weisen Mann, Hilfe, die er nicht geben kann. Mephisto schleicht sich an ihn heran und bietet ihm die Möglichkeit, auch hier helfen zu können, wenn er einen Vertrag mit dem Teufel schließt. Er tut dies und will so mit seinen Fähigkeiten den leidenden Menschen helfen. Die stellen aber fest, dass Faust vor christlichen Symbolen zurückweicht und erkennen daran seinen Bund mit dem Teufel. Faust verzweifelt und wird erneut vom Teufel verführt, der ihm jetzt die ewige Jugend aufschwatzt. Nun erlebt Faust u.a. seine Liebesgeschichte mit Gretchen, die Mephistos Plänen zuwider läuft und deswegen letztlich auch scheitern muss. Gretchen wird schwanger, muss fliehen. Es gelingt der Verzweifelten nicht, ihren Säugling vor dem Tod in der (bildhaften) Kälte des Winters zu retten, weil ihr niemand hilft. Wegen Kindesmord zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt, schreit sie nach Faust, der Mephisto zwingt, ihn zu ihr zu bringen. Faust löst seinen Bund mit Mephisto, wird wieder der alte Mann, der er war. Im Feuer erkennt Gretchen Faust wieder, der durch das ewig Weibliche mit hinan gezogen wird.
Es ist Murnaus Faust, nicht die Verfilmung des Goetheschen. Vieles davon ist die eher die alte Volkssage, auf die sich Murnau auch beruft. Jedenfalls ist Gretchen hier wesentlich weniger törichte Randfigur, als bei Goethe.
Die Musik ist ein ebenbürtiger Kommentar zum Film. Sie basiert auf der Faust-Symphonie Franz Liszts, der in seinen drei Symphonie-Sätzen die drei Hauptcharaktere der Handlung portraitiert. Weite Teile der lisztschen Partitur ließen sich überraschend schlüssig unter die Filmszenen legen. Das berühmte einleitende Motiv Liszts (aus zwölf Tönen) ist aber auch Keimzelle für Neues, das die Süße der Symphonie angreift und aufbricht.
Stuttgarter Nachrichten vom 8.7.2004
„Es ist keine Lautmalerei, die Schlingensiepen jetzt als Dirigent seiner Partitur den Stuttgarter Philharmonikern im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle abverlangt. Stattdessen spitzt er die Motive aus Liszts Vorlage mit viel Geschick auf die großen Gesten und Gefühle der Bilder zu und streut zwischendurch fast unmerklich immer wieder sanft Neutönendes ein. … und immer wieder gleitet die Musik aus Liszts Vorgaben hinaus und hinein ins Heute. Diese Annäherung der Klänge an die expressiven, expressionistischen Gesten des Films ist stark.”
EMAK BAKIA (1926)
Regie: Man Ray, Musik: Mark-Andreas Schlingensiepen (Neukomposition für Ensemble)
(In Kombination mit L´Etoile de Mer, Ballet mecanique und Entre Act)
Entre Act
Emak Bakia
L´Etoile de Mer
Ballet mecanique
Die vier Avantgarde-Filme haben keine erzählbaren Inhalte. Es handelt sich um abstrakte oder surrealistische optische Experimente, die u.a. mit den Mitteln der Montage und des Tricks eine besondere Atmosphäre schaffen und eine eigene, filmspezifische Sprache entwickeln.
Die Musik zu den Filmen Man Rays versucht mit Mitteln unserer Zeit, den bis heute erstaunlich experimentellen Charakter der Filme zu unterstreichen. Filmische Details geben dabei Impulse für die formalen und inhaltlichen Aspekte der Partitur. Die Filmmusiken von Satie und Antheil sind Klassiker der Moderne. Antheils Partitur war ursprünglich mit 16 Klavieren ausgestattet. In der heutigen Version sind es immerhin noch vier.
Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (1927)
Regie: Walter Ruttmann, Musik:
a) nach dem originalen Klavierauszug von Edmund Meisel für großes Orchester von M.-A. Schlingensiepen (Originalmusik 1927/1987)
b) nach dem originalen Klavierauszug von Edmund Meisel für ein Ensemble von sechzehn Spielern von M.-A. Schlingensiepen (Originalmusik 1927/1990)
c) „Montage” für großes Orchester von Mark-Andreas Schlingensiepen (Neukomposition 1995)
Ein Meisterwerk der Bildersprache! Ruttmann bezeichnete sein Werk als abstrakten Film, wie die, die der Berlin.Sinfonie vorausgegangen waren (Opus 1-4). Tatsächlich verzichtet er auf eine klassische Filmhandlung und Darsteller im üblichen Sinne. Es geht um Berlin, genauer gesagt um das Tempo und die Dynamik des Lebens in und mit einer Großstadt am Beispiel Berlins. Sie ist hier die Hauptdarstellerin! Fünf Akte führen durch einen fiktiven Tag. Der erste Akt beginnt in den frühesten Morgenstunden, zeigt Berlin teilweise in Fotografien, um die Reglosigkeit vor der Turbulenz zu unterstreichen. Dann setzten sich die Heerscharen der Arbeiter in Bewegung. Im zweiten Akt beginnt der Vormittag mit einer gewissen Geruhsamkeit und dem spielerischen Elementen des Schulwegs der Kinder. Solche Zustände sind nicht von Dauer…
Der fünfte Akt schildert das Nachtleben der Großstadt u.a. mit den Vergnügungen, wie sie mit der Erfindung des Fernsehens verschwunden sind.
Berliner Morgenpost 31.8.95: „Ein Welterfolg hat noch einmal Premiere. Der Stummfilm-Klassiker „Berlin.Die Sinfonie der Großstadt”…wurde vom Komponisten Mark-Andreas Schlingensiepen neu vertont. Und die Premiere im Haus der Kulturen war ein echter Erfolg. Denn Schlingensiepen hatte den Rhythmus des Films, seine immer wieder neu aufscheinenden Motive, seine Variationen und überraschenden Momente in Musik gefasst …
Ruttmanns Film zeigt das Pulsieren Berlins in musikalischer Weise. Film und Filmtitel verlangen nach Musik. Diese hat Schlingensiepen mit seiner Komposition in kongenialer Weise beigesteuert und mit seinem internationalen Orchester hervorragend interpretiert.”
Metropolis (1927)
Regie: Fritz Lang, Musik: Gottfried Huppertz (Originalmusik für Orchester in der Rekonstruktion von B. Heller)
Diese Stadt der Zukunft teilt sich in zwei Teile. Oben in den Hochhäusern leben die Herrschenden, unterirdisch die Arbeiter. Der Sohn des Machthabers, Freder, begegnet für einen Augenblick Maria, einer charismatischen jungen Frau aus der Unterstadt. Bei der Suche nach ihr wird er der Arbeitsverhältnisse unter der Stadt gewahr und dabei Zeuge eines erschreckenden Maschinenmolochs, von dem er seinem Vater berichtet. Maria erweist sich als Hoffnungsträgerin, ja als Heilige der Menschen, die unterirdisch leben müssen. Der Forschergeist Rotwang hat an einer Kunstfigur gearbeitet. Nun soll er dieser das Aussehen Marias verleihen. Durch Aufstachelung der Arbeiterschaft mit Hilfe dieser Kunstfigur soll der Anlass geschaffen werden, die Arbeiter endgültig zu unterwerfen. Erst als durch den Aufstand die unterirdische Stadt im Wasser versinkt, erkennen die Aufständischen, dass die Kunstfigur sie verführt hat. Sie wird auf dem Scheiterhaufen verbrand. Freder rettet die echte Maria aus den Händen Rotwangs und versöhnt den Vater mit dem Wortführer der Arbeiter.
Die Musik malt in opulenten Klängen und leitmotivischer Tonsprache das Filmgeschehen nach. Der Film ist nach schwierigem Start in den Entstehungszeiten seit den 80ger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts ungeachtet seiner eigenartigen „Botschaft“ ein Kultfilm. Es ist zugleich der letzte expressionistische und der erste neu-sachliche Film der deutschen Filmgeschichte. Die Schlussbotschaft des Films ist fragwürdig. Fritz Lang hat sich später selbst von der Aussage distanziert. Der Film ist aber wegen seiner großartigen Bilder berühmt und hat es inzwischen zum Weltdokumentenerbe der UNESCO gebracht!
L´Etoile de Mer (1928)
Regie: Man Ray, Musik: Mark-Andreas Schlingensiepen (Neukomposition für Streicher und Klavier)
(in Kombination mit Emak Bakia, Ballet mecanique und Entre Act)
Entre Act
Emak Bakia
L´Etoile de Mer
Ballet mecanique
Experimente, die u.a. mit den Mitteln der Montage und des Tricks eine besondere Atmosphäre schaffen und eine eigene, filmspezifische Sprache entwickeln.
Die Musik zu den Filmen Man Rays versucht mit Mitteln unserer Zeit, den bis heute erstaunlich experimentellen Charakter der Filme zu unterstreichen. Filmische Details geben dabei Impulse für die formalen und inhaltlichen Aspekte der Partitur. Die Filmmusiken von Satie und Antheil sind Klassiker der Moderne. Antheils Partitur war ursprünglich mit 16 Klavieren ausgestattet. In der heutigen Version sind es immerhin noch vier.
Das neue Babylon (1928/29)
Regie: Grigori Kosinzew und Leonid Trauberg, Musik: Dmitri Schostakowitsch
(Originalmusik für kleineres Orchester)
Der Aufstand der Pariser Commune 1870 ist Thema dieses großen dramatischen Films. Die Entwicklungen werden mit einer Liebesgeschichte über die Parteigrenzen hinweg verwoben.
Die Verkäuferin im Kaufhaus „Das Neue Babylon” - Louise - begegnet dem Bauernsohn Jean, der als Soldat zum Einsatz gegen die Aufständischen befohlen ist, zu denen Louise gehört. Es bleibt nur ein tragisches Ende.
Die Musik des jungen Dmitri Schostakowitsch war ungewöhnlich schwierig und heftig umstritten. Sie galt einst als unaufführbar und unkultiviert. Weil Schostakowitsch nicht nur die Musiker, sondern auch das Publikum überforderte, hieß es in der Premiere sogar, der Dirigent sei betrunken gewesen.
Ruhr-Nachrichten Bochum vom 26.3.2001:
„…Nicht mehr nur reine musikalische Illustration des filmischen Geschehens zu liefern, war sein (Schostakowitschs) Anspruch. Tieferer Zugang und Interpretation ist es, was er geleistet hat. Szenen wie die Darstellung des dekadenten Treibens der Bourgeoisie im titelgebenden Luxuskaufhaus „Das Neue Babylon” werden in ihrer Lasterhaftigkeit verstärkt, wenn Zirkusmärsche und Polkas unterlegt werden. Die Marseillaise, eben noch voller Stolz gespielt, verliert an Pathos, wenn sie in Offenbachs Cancan aus „Orpheus in der Unterwelt“ übergeht”.”
Asphalt (1929)
Regie: Joe May, mit Gustav Fröhlich, Gert Fröbe, Musik: Karl Ernst Sasse (Neukomposition für Orchester1995)
Wachtmeister Holk will seinen Feierabend antreten, als er an einem Juwelierladen vorbeikommt, in dem gerade ein Diamant vermisst wird, nachdem eine junge Dame den Laden besucht hatte. Holk muss sie schließlich festnehmen, weil das corpus delicti bei ihr gefunden wird. Auf dem Weg zur Wache beginnt sie mit allen Mitteln, den Wachtmeister weich zuklopfen. Heulend sagt sie, sie müssen wenigstens vorher ihre Papiere in der nahe gelegenen Wohnung holen. Sie trotz ihm dies ab, um ihn in der Wohnung schließlich zu verführen. Auf die Wache muss sie dann natürlich nicht mehr. Bald darauf bedankt sie sich bei ihm dadurch, dass sie ihm eine Schachtel Zigarren schickt. Das bringt ihn in Rage. Er geht zu ihr, um ihr die Zigarren mit deutlichen Worten des Zorns zurückzugeben. Nach einem Wortwechsel nähern sie sich wieder an, als der Herr des Hauses, den wir vorher als Bankräuber bei der Arbeit in Paris kennen gelernt haben, in die Wohnung tritt. Es kommt zum Zweikampf, in dem Holk den Widersacher erschlägt. Er verlässt die Wohnung, geht wieder nachhause zu seinen Eltern, gesteht ihnen das Geschehen, das sie ihm förmlich ansehen. Sein Vater, selbst Polizist im gehobenen Dienst, streift sich die Uniform an und bringt seinen Sohn aufs Präsidium. Während des Verhörs erscheint die Mutter mit der Diebin, die jetzt aus Liebe bereit ist, ihn durch ihre Aussage zu entlasten. Der Richter erkennt die Notwehrsituation an und entlässt Holk bedingt auf freien Fuß. Sie muss allerdings hinter Gitter, da sie ja geklaut hatte und das offensichtlich nicht nur einmal! Alles, was Recht ist…! Er verspricht ihr dennoch: „Ich warte auf Dich!“
Die Musik Karl-Ernst Sasses scheint zunächst den (melo)dramatischen Charakter des Films einfach zu missachten. Dadurch wird sie allerdings (ohne die Verwendung zeitgenössischer Mittel) zu einem leicht distanzierten Kommentar, der den Film aufwertet, dessen Stärken in der Fotografie liegen. Der Hauptdarsteller Gustav Freitag ist als Freder in Metropolis bekannt geworden.
Drifters (1931)
Regie: Grearson, Musik: André Asriel (Neukomposition für kleine Solistengruppe und Streichorchester)
Hier wird in früher Dokumentarfilm-Manier die Industrialisierung des Fischfangs in Schottland gezeigt. Dass die Bilder heute in weitem Teilen durchaus einen „romantischen“ Eindruck vermitteln, liegt an der zeitlichen Distanz zu den geschilderten Umständen. Dampf getriebene Kutter fahren bei verschiedenen Witterungsverhältnissen hinaus auf See, bringen ihren Fang an Land, wo er in kleinen Fabriken verarbeitet wird. Die Härte des Arbeitslebens ist Inhalt der Dokumentation.
Die Musik für ein größeres Streichorchester mit einer kleinen Sologruppe aus Flöte, Akkordeon und Schlagzeug versucht die Klänge des Hauptdarstellers Meer musikalisch zu spiegeln.
Tabu (1931)
Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, Musik: Violeta Dinescu
(Neukomposition für Ensemble 1988)
Die Geschichte spielt auf den Südseeinseln Bora-Bora und Tahiti. Der Priester Hitu kommt auf ein Inselparadies, wo er sich - den Regeln der Religion gemäß - eine „heilige Jungfrau“ auswählen will, um sie auf seinem Schiff mitzunehmen. Was normalerweise eine ehrenvolle Erwählung für die Frau wäre, bedroht hier die junge Liebe von Reri und Matahi. Sie fliehen deshalb auf die Nachbarinsel (ein Tabu-Bruch!), auf der diese Rituale nicht mehr existieren. Dafür herrscht hier der Alkohol und der Leichtsinn der „zivilisierten Welt”. Unwissenheit treibt die jungen Liebenden in eine Verschuldung, die ihnen die weitere Flucht vor der Verfolgung des Priesters unmöglich macht. Während Matahi nachts heimlich versucht, an verbotener Stelle eines Riffs Perlen zu fischen (ein weiterer Tabu-Bruch!), um doch an das nötige Geld zu kommen, folgt Reri schließlich dem Priester, um das Leben ihres Geliebten zu retten. Als der das entdeckt, versucht er verzweifelt, dem davonfahrenden Boot schwimmend zu folgen und ertrinkt dabei.
Murnaus letzter Film entstand auf eigene Kosten und auf eigenes Risiko. Die Produktionsfirmen glaubten nicht an den Erfolg eines Stummfilms, als der Ton schon Einzug hielt, der obendrein kein happy end zu bieten hatte. Es wurde dennoch ein Erfolg, den Murnau allerdings nicht mehr erlebte, weil er noch vor der Premiere bei einem Autounfall ums Leben kam.
Die Musik von Violeta Dinescu steuert musikalische Vitalität und entfernt „folkloristische“ Einschläge zur Lebhaftigkeit der Filmerzählung bei. Dabei handelt es sich gleichwohl um eine zeitgenössische Musiksprache, wie sie Dinescu auch in ihrem sonstigen Schaffen kennzeichnet. Die Partitur entstand für das Ensemble Modern.
City Lights (Lichter der Großstadt) (1931)
Regie: Charlie Chaplin, Musik: Charlie Chaplin (Originalmusik für Orchester)
Tramp Charlie wird auf seinem Streifzug durch die Stadt von einer ebenso armen wie jungen Blumenverkäuferin angesprochen. Er stellt (natürlich verspätet) fest, dass sie blind ist. Nur so kann sie ihn auch für einen reichen Mann halten. Es entwickelt sich eine rührende Liebesgeschichte, in der er sich bemüht, den falschen Schein des Reichtums aufrecht zu erhalten. Er versucht auf verschiedenen Weisen, das nötige Geld zu beschaffen, damit sie sich schließlich einer Augenoperation unterziehen kann, die ihr die Sehkraft zurückgibt. Er geht zur Müllabfuhr oder verdingt sich gegen ein Geringes als Boxer. (Der Kampf mit einem eigentlich viel zu kräftigen Gegner ist ein choreographisches Meiserwerk, das auch Nurejew begeisterte!) Der schließlich erfolgreichste Versuch der Geldbeschaffung erscheint manchen nicht ganz legal. Immerhin kann Sie sich an den Augen operieren lassen und ahnt dabei nicht, dass er derweil im Knast gelandet ist. Gesundet wird sie Besitzerin eines veritablen Blumenladens. Eines Tages sieht sie einen armen, rührend lustigen Mann eine Blüte aus dem Rinnstein vor ihrem Laden aufheben und sich ans Revers stecken. Sie ruft ihn heran um ihm eine frische Blume und ein Geldstück zu schenken. Schüchtern steht er ihr gegenüber. Sie nimmt seine Hand und erkennt in der Berührung, wer vor ihr steht. Der Film endet mit einem ergreifenden Lächeln Chaplins. Aber, ob aus diesem Paar etwas werden kann…?
Von jeder Musik zu Chaplins Filmen heißt es, er habe sie geschrieben und dass ohne Notenkenntnisse! Ohne die Hilfe ausgesprochen befähigter Musiker in seiner Umgebung wäre es sicher nicht möglich gewesen. Vorsingend und (auf dem Cello) auch spielend, im Verlauf der Produktion kräftig eingreifend, hat er aber tatsächlich den schöpferischen Prozess beherrscht wie jedes andere Detail seiner Werke.
Misère ou Borinage (1933)
Regie: Storck und Ivens, Musik: André Asriel (Neukomposition für kleines Ensemble und zwei Sprecher)
Der Film erzählt als früher Dokumentarfilm auch mit nicht streng dokumentarischen Mitteln (von den Betroffenen nachgespielte Szenen) die Geschichte von einem Aufstand der Bergarbeiter im Hennegau, die im Zuge der Weltwirtschaftskrise in die Arbeitslosigkeit geraten sind. Die Bergbaugesellschaften umzäunen die sich türmenden Kohlehalden, währen die dazwischen lebenden Kumpel die Fensterläden ihrer kleinen Häuser verheizen, weil sie das Geld für die Kohle nicht mehr haben.
Die Musik von Andre Asriel (besetzt u.a. mit Klarinette, Trompete, Akkordeon, Kontrabass und Schlagzeug) und die von zwei Sprechern zu rezitierenden Texte ergänzen die Bilder ganz in dem Stil, an den die Regisseure dachten, als sie Brecht und Eisler zur Mitarbeit gewinnen wollten, wozu es aber damals nicht kam.